Mittwoch, 1. November 2006
Amore Mio - Stoll&Wachall 2006
crossborder, 11:46h
hier direkt zum Videoausschnitt auf der Seite von Stoll & Wachall:
http://www.stoll-wachall.de/video/video_html/video_amore%20mio.htm
„Amore mio“
Devot kniende Frauen, wackelnde Pos in neckischen Dessous, der schmachtende Aufruf „amore mio – love me forever!“, der laszive Latino-Rhythmus: ist das der Stoff aus dem feuchte Männerträume sind? Die Schlüsselreize der dreiteiligen Projektion sind stark und polarisieren das Publikum ad hoc: Empörung, stiller Genuss, offene Faszination, Belustigung, je nach individuellem Profil oder einfach nur Tagesform der Betrachter und Betrachterinnen.
Doch wie häufig bei den Arbeiten von Stoll & Wachall ist das Offensichtliche nur eine dünne Eisschicht, auf der die Betrachter schnell ins Schlittern kommen und unvermittelt einbrechen. Das Duo treibt mit Hilfe seiner an der Performance geschulten Körperarbeit mit dem Publikum ein subtiles Katz und Maus Spiel. Die Arbeit „amore mio“ bewegt sich hierbei zwischen den thematischen Clustern „Macht-Manipulation-Abhängigkeit“, „Körperlichkeit-Weiblichkeit-Identität“ und „Objekt-Subjekt-Beziehung(en)“.
Diese Themen haben Stoll & Wachall in ihrem künstlerischen Explorationsprozess in den letzten Jahren ausgiebig erforscht und immer wieder auf überraschende Weise durchdrungen. So auch in der vorliegenden Arbeit, die stärker an „Delicious Monsters“ und „Paradise, not for me“ anknüpft, als an Arbeiten wie „Private Collection“ oder „Sugar Exit“.
Drei miteinander verbundene Projektionen zeigen ein silbern weißes Hochglanz Ambiente, ähnlich den Covers schicker Modemagazine. Drei weiße, plüschige Kissen warten im Zentrum eines jeden Bildes darauf besetzt zu werden. Mit dem sinnlichen Arpeggio einer Harfe öffnet oder besser: entblättert sich die zentrale Projektion von der Mitte her und gibt den Blick frei auf einen mit schwarzen Dessous gekleideten, rhythmisch hin und her wackelnden Frauenpopo. Kurze Strapse baumeln rechts und links. Die Frau kniet mit dem Rücken zum Betrachter auf dem kleinen fedrig weißen Plüschkissen und hat den Oberkörper soweit zum Boden gerichtet, dass nur der Po, die Beine und Füße und der sich in der Vorbeuge verlierende Rücken zu sehen sind. Arme und Hände sind nicht zu sehen. Mit dem lauten, sehnsuchtsvollen Aufruf „amore mio!“ setzt der Gesang einer Frau ein und der Rhythmus einer Rumba gibt dem hin und her schwingenden Po endlich eine musikalische Rechtfertigung. In immer neuen Choreographien und mit wechselnden Dessous, mal weiß, mal schwarz, mal farbig, aber zum immer gleichen Loop von „amore mio – love me forever, take me tonight“ präsentieren sich auf den drei Projektionen wackelnde Frauenpopos zur Rumba.
Durch das Fehlen individueller Merkmale (Gesicht!) präsentieren sich die Frauenkörper zunächst unmissverständlich als Objekte. Die Zurschaustellung der intimen Körperteile, das Spiel mit den Dessous und die musikalische Hintergrundfolie des Songs „amore mio – love me forever“ laden die Arbeit erotisch auf. Stoll & Wachall „generieren“ mit diesem Setting förmlich Erotik und nutzen sie als „Kommunikationsmittel“ zur Herstellung einer Beziehung zum Betrachter und zur Betrachterin, die dadurch angezogen oder auch abgestoßen werden können. Es ist genau dieser bewusste Umgang mit Erotik als Kommunikationsform, der verhindert, dass in der Arbeit „amore mio“ eine simple Voyeur Situation entsteht: das Objekt präsentiert sich dem Publikum und nutzt dessen „Anfälligkeit“ für die Macht erotischer Bilder. Die Zurschaustellung von Erotik und deren Einsatz zur Vermarktung von Objekten („Sex sells!“) ist fester Bestandteil der Kommunikation in unserer modernen Mediengesellschaft. Stoll & Wachall überführen diese Technik in eine künstlerische Ausdrucksform und setzen sie im wahrsten Sinne des Wortes „schamlos“ ein, um den Betrachter, unabhängig von dessen Geschlecht und geschlechtlicher Orientierung, vor den Projektionen festzuhalten. Sie entwickelen eine künstlerische Form der Manipulation durch Geschlechtlichkeit und Erotik, die ihre Macht aus unserer Abhängigkeit von diesen Schlüsselreizen zieht.
Auf diese Weise gefesselt, ereignet sich jedoch die eigentliche Sensation beim Betrachten der Arbeit: die an und für sich absurde Körperhaltung und vor allem die Gesten und Bewegungen der Arme und Beine konterkarieren den gestischen Code der „Erotik-Industrie“. Durch die subtile Brechung des erotischen Kommunikationscodes unserer Zeit befreien Stoll & Wachall die Körper vom Geschlechtlichen und überführen sie zu „Körperskulpturen“. Genauer gesagt befreien sie unseren Blick vom Schleier des Geschlechtsbezogenen. Die Wahrnehmung wird geschärft und das Objekt selbst tritt geradezu abstrakt und – ebenfalls im Wortsinne – „nackt“ zu Tage: der Körper. Er ist hier durch seine Attribute und Aussehen zwar eindeutig als „weiblich“ gekennzeichnet, doch treten diese in den Hintergrund und veranlassen weiterführende Assoziationen und Interpretationsmöglichkeiten des Geschauten: „Insektenartig“, „außerirdisch“, „Dali-esk“, „kubistisch“ oder gar „Brancusi-esk“ wirken die Körperskulpturen, die durch ihr rhythmisches Schwingen hypnotisch immer mehr fesseln und zur weiteren Erforschung einladen. Die Körperskulpturen gewinnen so auch an Individualität, sie werden zu einem „Insekt“, einem „Alien“, einem „sich Kratzenden“, ja sogar Empfindungen werden zugeordnet. Einige wirken „witzig“ oder „frech“, andere „traurig“ und „schüchtern“. Die Monstrosität der Exposition wandelt sich zu einem Bild des Ausgeliefertseins und der Verletzlichkeit des Körpers, den wir auch in abstrakter Form zu beseelen versuchen und der sich dadurch letztlich reiner Objekthaftigkeit entzieht.
Die freie Kontemplation des Körpers wird jedoch immer wieder durch den durchdringenden „amore mio“ Ruf durchbrochen, der fast zwanghaft die erotische Sehnsucht des Körpers, aber auch die übergroße Sehnsucht des Individuums (der Seele?) nach Liebe zum Ausdruck bringt. Glück und Freiheit durch Verschmelzung von Liebe, Erotik und Selbsterfüllung ist das Credo der sexuellen Befreiung des 20. Jahrhunderts. Vor dem Hintergrund der kritischen Auseinandersetzung mit der Bild- und Formensprachen der modernen Mediengesellschaft, stellt die Arbeit von Stoll & Wachall die einfache Umsetzbarkeit und die Gültigkeit dieser Formel in Frage, indem sie uns ein mit inhärenten Stilmitteln unserer Zeit gezeichnetes Bild zeigt.
Lautet also die Botschaft von „amore mio“: wir liegen am Boden, performen eine erotische Groteske und verwechseln dies mit der Suche nach Liebe? Hat uns die sexuelle Befreiung des 20. Jahrhunderts in einen plüschiges Erotik Nirvana geschickt, wo wir ein eher „tantalisches“ als ein „tantrisches“ (Liebes-)Leben führen? Exponieren wir uns, locken, circen und werden doch nur als kuriose Objekte erfasst? Bestenfalls? An diesem Punkt setzt die individuelle „Arbeit“ des Betrachters und der Betrachterin erst ein: wie können Sehnsucht, Liebe, Erotik, Körper, Individuum und Selbstverwirklichung zueinander in Beziehung gebracht werden? Alte Fragen, aber einfache Antworten gibt’s natürlich auch im 21. Jahrhundert nicht...
Stoll&Wachall sind bis 15. Dezember 2006 in San Francisco zu sehen.
http://www.stoll-wachall.de/
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